LERNEN MIT ZUKUNFT
information & erinnerung Anneliese Albrecht: Wo steckt der Mann im Radio? HERZOGENRATH BEI AACHEN, 1931 A uf dem Heimweg von der Schule war ich nie allein. Etliche Mit- schülerinnen mußten in dieselbe Richtung gehen. Mein Weg war der kürzeste. Ursel, zum Beispiel, lief weiter bis zu den Glaswerken; die lagen zwischen Herzogenrath und Merkstein. Ihr Vater arbeitete dort. Sie war mitteil- sam, und ich hörte ihr gern zu. Einmal erzählte sie mir von dem Radioapparat, den ihre Eltern angeschafft hatten. Sie schwärmte von der Kinderstunde des Westdeutschen Rundfunks. An einem Tag in der Woche gäbe es eine gemein- same Bastelstunde mit Hörerkindern. Heute um 15 Uhr sei es wieder soweit. Wenn ich Lust hätte, könnte ich doch zu ihr kommen, um die Sendung gemein- sam zu hören. Meine Mutti war einver- standen. Begeistert machte ich mich nach Erledigung meiner Schulaufgaben auf den Weg. Ursel wartete schon vor dem Fabriktor an der Straße. Sie führte mich über viele Gleise, die zu allen Hallen liefen. Das Werk erschien mir riesengroß. Auf einem Emailleschild las ich: „Bureau“, daneben zeigte eine schwarze Hand mit ausge- strecktem Zeigefinger auf weißem Grund die Richtung an. Dahinter wohnte Ursel. Ihre Mutter nahm mich freundlich auf. Sie freute sich, daß ich den weiten Weg nicht gescheut hatte. Gemeinsam warteten wir gespannt auf die Sendung. Lange ertönte das Pausen- zeichen. Es entzückte mich ebenso wie die folgende Bastelstunde. Bevor die Anweisungen gegeben wurden, konnten wir bei eingespielter Musik die benö- tigten Werkzeuge, wie Schere, Lineal, Bleistift, Farben, sowie einige Zeichen- blätter herbeiholen. Weil Karnevalszeit war, wurde eine Maske gewerkelt. Wir setzten die Anleitungen aus dem Appa- rat schrittweise so um, daß wir mit dem Ergebnis hochzufrieden waren. Ganz erfüllt kam ich heim und sprudelte meine Erfahrungen in allen Einzelheiten heraus. Mutti ließ sich begeistern. Als Papa beim Abendbrot die Neuigkeit erfuhr, meinte er:"So ein Radioapparat wäre doch auch etwas für uns! Ich spiele schon lange mit dem Gedanken. Gehen wir doch mit der Zeit!“ Einige Tage später holte Papa abends ein kleines Tischchen ins „gute Zimmer“ und bat Mutti, doch auf dem roten Sofa Platz zu nehmen. „Was wollt ihr denn?“ fragte er Klein-Inge und mich, „bleibt lieber in der Küche, denn wir brauchen jetzt absolute Ruhe!“ Das war so ein Schlagwort von ihm. Die Schwurfinger erhoben, versprachen wir hoch und heilig‚ ganz leise zu sein, und so duldete er schließlich, daß Mutti auch uns aufs Sofa zog. Bald darauf klingelte es an der Haustür. Herr Mohr, der Meister und Inhaber des Elektrogeschäfts „Elektro-Mohr“ in Herzogenrath, kam herein, grüßte freundlich und setzte einen großen Kar- ton auf unserem Tisch ab. Wir reckten neugierig die Hälse. Inge war kaum zu halten, wurde aber gleich wieder ruhig, als Mutti sie streng ansah. Der Meister öffnete geschickt die Ver- packung und hob ein Gehäuse aus der Anneliese Albrecht www.zeitgut.de 32 | MÄRZ 2019 Fotos:© Archiv Verlag Zeitgut.de Entnommen aus dem Buch Spuren des Jahrhunderts Zeitgut zum Kennenlernen 192 Seiten mit vielen Abbil- dungen Zeitgut Verlag Berlin. www.zeitgut.com ISBN 978-3-86614-217-6,
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