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information & erinnerung 32 | MÄRZ 2020 Hildegard Strauß: [ORTELSBURG), MASUREN, OSTPREUSSEN; 1937 Muttertag Hildegard Strauß aus dem Buch "Momente des Erinnerns" Vorlesebücher für die Altenpflege Band 4. 128 Seiten mit vielen Abbildungen, Fadenheftung, größere Schrift, Zeitgut Verlag, Berlin. ISBN 978-3-86614-186-5 J eden Morgen gehe ich auf meinem Schulweg an dem großen Mode- geschäft mit den schönen Kleidern und Mänteln vorbei. Seit Wochen liegt ganz vorne im Schaufenster ein wunderschöner blauer Chiffonschal mit weißen Tupfen. Es muß der gleiche sein, den Olga Tschechowa – sie war damals eine große Filmschauspielerin – in ihrem letzten Film trug. In fünf Wochen ist Muttertag. Mutter ist sehr krank und kann nicht mehr aufste- hen, aber mit ihren schönen schwarzen Haaren und den großen blauen Augen würde sie mit diesem Schal wunder- schön aussehen, wie Olga Tschechowa! Ich bin zehn Jahre alt. Günter, mein äl- terer Bruder, hat sicher schon ein tolles Geschenk. Im Gegensatz zu mir spart er immer fleißig. Doch auf diesen Schal ist er bestimmt nicht gekommen. Mein Geschenk würde ganz bestimmt das schönste sein. 1,80 RM kostet der Schal. Mein Ta- schengeld beträgt 20 Pfennig pro Wo- che. Das ergibt in den fünf Wochen bis zum Muttertag eine Mark. 40 Pfennig habe ich noch. Dann fehlen mir immer noch 40 Pfennig. Jeden Morgen auf dem Schulweg werfe ich einen Blick ins Schaufenster. Ob er noch da ist? Nur noch eine Woche, dann ist Mut- tertag, und mir fehlen immer noch 40 Pfennig! Wenigstens Blumen brauche ich nicht zu kaufen, die Tränenden Herzen und der Goldlack blühen schon im Garten. Wie komme ich nur zu den 40 Pfennigen? Ich könnte natürlich eine Eins im Diktat schreiben, dann bekäme ich vielleicht 10 Pfennig, aber auch nur vielleicht! Eigentlich ist die Anstrengung viel zu groß für 10 Pfennig! Aber ich könnte die Briefe für unseren Hausbesitzer zur Post bringen. Manchmal gibt er mir 10 Pfen- nig dafür, aber auch nur manchmal! Nur noch zwei Tage bis zum Muttertag. Der Schal liegt nach wie vor im Schau- fenster und mir fehlen die 40 Pfennig immer noch. In meinem Nachttisch müßten eigentlich noch 20 Pfennig liegen, die ich als Schmerzensgeld für meine Halsschmerzen bekommen habe. Ich muß gleich mal nachsehen. Es ist der letzte Tag vor Muttertag. Ich stehe vor dem Schaufenster. Meine Hand ist feucht und ganz fest um das kleine Portemonnaie gepreßt. Darin sind 1,60 RM. Ich nehme all meinen Mut zusammen und gehe in den Laden hinein. „Ich hätte gerne den blauen Schal mit den weißen Punkten, aber ich habe nur 1,60 RM. Könnte ich den Rest abzahlen?“ frage ich forsch. Die Blicke, die zwischen den beiden Ver- käufern hin- und hergehen, lassen mich schon viel weniger forsch dastehen. „Ich brauche ihn ganz dringend“, sage ich nun schon viel bescheidener. Mein Herz klopft bis zum Hals. Wenn sie nun nein sagen? Was mache ich dann?
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