LERNEN MIT ZUKUNFT

information & erinnerung 33 | MÄRZ 2020 „Wann würdest du denn den Rest be- zahlen?“ fragt der eine Verkäufer. „In der nächsten Woche könnte ich den Rest von meinem Taschengeld bezahlen, ich bekomme 20 Pfennig pro Woche“, antworte ich schnell und schon wieder viel lauter. Der Verkäufer packt sehr langsam den Schal ein, sieht mich ernst an und sagt: „Dann bis zur nächsten Woche.“ „Ja“, sage ich und sehe ihn genauso ernst an und verspreche: „Bis zur näch- sten Woche.“ Auf dem Nachhauseweg presse ich das kleine Päckchen ganz fest an mich, als ob es der kostbarste Schatz der Welt wäre. Was wird Mutter wohl dazu sagen? Es ist soweit. Muttertag. Günter steht schon vor der Schlafzimmertür, als ich mit meinem kleinen Päckchen ankomme. Wir dürfen immer erst zu Mutter, wenn sie von der Krankenschwester gewa- schen und gekämmt worden ist. Günter hat einen großen verpackten Gegen- stand vor sich zu stehen. Was mag da wohl drin sein? Ich halte mein kleines Päckchen mit dem Schal auf dem Rücken versteckt. „Was hast du denn?“ frage ich ihn neu- gierig. „Pack’ es doch mal aus, Mutter kann es in ihrem Bett sowieso nicht.“ Sein triumphierender Blick läßt nichts Gutes ahnen, als er ganz langsam den Packbogen löst. Ich traue meinen Augen nicht: ein kleiner Tisch, ein Tisch, den man auf das Bett stellen konnte, damit Mutter bequem essen kann. Genau das, was Mutter braucht! Und ich habe einen sinnlosen, lächer- lichen Schal, den sie nie umbinden wird! Die Tränen laufen mir über die dicken Wangen. Dieser Günter! „Das ist gemein!“, schreie ich und bin gerade dabei, voller Wut meine kleinen Fäuste in seine Seite zu schieben, als Mutter „Herein!“ ruft. Ich drängele mich nicht vor, ich muß erst meine Tränen abwischen, es ist sowieso alles egal. Was ist schon mein Schal gegen seinen Frühstückstisch? Mutter sieht schön aus wie immer. Wir stehen an ihrem Bett, Günter stellt seinen Tisch darauf und sagt in seiner korrekten Art: „Ich gratuliere dir zum Muttertag.“ Mutter streicht mit ihrer kranken Hand über den Tisch. „Der ist schön, nun kann ich endlich bequem essen, ich danke dir.“ Ich bin todunglücklich. Wie konnte ich nur auf die Idee mit dem Schal kommen? Vielleicht sollte ich ihn fallen lassen und nur die Tränenden Herzen schenken? Der Günter ist so gemein ... Nun bin ich dran. Ich lege mein kleines Päckchen auf Mutters Bett und sage: „Liebe Mutti, ich wünsche mir ... nein, ich wün- sche dir, daß du bald wieder gesund wirst.“ Mein Herz klopft, als sie ganz langsam das Päckchen auspackt. Sie breitet den Schal aus, hebt leicht ihren Kopf und legt ihn um. „Hol mir bitte einen Spiegel“, sagt sie. Ich halte ihr den Spiegel hin, sie zupft hier und da und freut sich: „Ist der schön! Ich habe noch nie einen so schönen Schal besessen. Den werde ich niemals wieder ablegen.“ Ich sitze vor ihrem Bett, den Tisch sehe ich nicht mehr. Mutter sieht so schön mit dem Schal aus – wie Olga Tschechowa! Ich bin glücklich. Foto: © JL G-pixabay.com

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