LERNEN MIT ZUKUNFT
30 | MÄRZ 2021 Ein ganz persönlicher Prozess: NICHTS TRÄGT IM GLEICHEN MASS WIE EIN TRAUM DAZU BEI, DIE ZUKUNFT ZU WO GEHN WIR DENN HIN? IMMER NACH HAUSE (Novalis) Vom Leben und vom Sterben Mag. Reinhard Winter Jürg Mäder Seit 40 Jahren initiiert und begleitet er Projekte in den Bereichen Päda- gogik, Kultur, Film und Artenvielfalt. https://trailblazing.ch Tag über unterwegs, zu Fuss, mit dem Taxi. Vergessen waren deine schmerzenden, alten Gelenke. Ein Wesenszug den ich bisher an dir nicht kannte. Alles in deinem Leben war durchgeplant und organisiert – als Ehefrau, als Mutter von fünf Kindern, als Gärtnerin deines großen Gartens, mit wenig Zeit für alle deine vielen Interessen und Bega- bungen. Spätabends Geschichten erzählend, mit einer Bildkraft, als sei dieser Ort dir aus einem früheren Leben schon bekannt. Im Zimmer des Hotels, in den frühen Morgen- stunden, hast du die ganze Pilgerreise im Tagebuch festgehalten. Es war dir ein großes Anliegen nichts zu vergessen, dein alterndes Gedächtnis frisch zu halten. Dann, fünfzig Sekunden später, ein tiefes Einatmen. Ein Hauch von Leben kehrt in dich zurück. In den vergangenen Tagen saßest du oft, tief gebeugt, tagebuchschreibend im Garten des Pflegeheimes - mit dem wenigen Restlicht deiner Augen - die Ostersonne genießend, dein Leben Revue passieren lassend, heimwehgeplagt. In Wien aufgewachsen, ein glückliches Leben als Zweitälteste mit sieben Geschwi- stern. Dein Vater, gläubiger Katholik und Vizebürgermeister war engagierter Kämpfer gegen den Nationalsozialismus und musste mit deiner ganzen Familie kurz vor dem Anschluss ans Deutsche Reich fliehen. Ein großer Bruch in deinem Leben. Über die Grenze in Feldkirch begann eure Odyssee durch die Schweiz, Frankreich, Belgien, Eng- land und schließlich in die USA, wo du dein Sprachstudium absolvieren konntest. Auf D ie Finalphase, wie der Pflegelei- ter es ausdrückte, hat begonnen. Die Morgensonne scheint in das Zimmer und wärmt deinen welkenden Körper. Der Wecker auf dem Nachttisch tickt ohne Unterlass, lässt Zeit und Raum miteinander verschmel- zen. Schlaf- und traumähnlicher Zustand. Du bist in innerer Bewegtheit, in Unru- he, auf Reisen durch ein reiches Leben. Deinem Körper, einem Gefängnis gleich, dem du länger schon zu entrinnen ver- suchtest, entschwinden die Kräfte. Ein langes Ausatmen – dann Atemlosig- keit in tiefster Entspannung. Das feine Pulsieren deines Halsäderchens unter deiner pergamentartigen Haut deutet noch auf einen Rest von Leben hin. Du entgleitest mir. Unsere gemeinsamen Reisen, die uns verbunden haben, ähnlich einer Komplizenschaft, die dem Alltag entflieht, sind Erinnerung. Du warst schon beinahe achtzig, Lateinlehrerin an unserer Schule. Dein immenses Wissen über die Antike, deine Erzählgabe, deine Liebe zur Grammatik erweckte diese tote Sprache zu neu- em Leben. Die Schüler liebten deinen Unterricht. Dann auch unsere Romreise, über Weihnachten, zusammen mit deiner Tochter, meiner Lebensgefährtin. Im Reiseführer entdecktest du den sieben Kirchen Pilgerweg. So machten wir uns frühmorgens auf den Weg, den ganzen
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