LERNEN MIT ZUKUNFT

fliegerbeschuss. In Pritzwalk laden wir die Toten aus. Wir hungern und frieren. Als wir in Bad Kleinen ankommen, steht das Rote Kreuz am Bahnsteig mit einem Kessel dampfender Erbsensuppe. Wir schlürfen diese Suppe aus Pappbechern. Ich kann nicht beschreiben, wie das schmeckt! Wir kommen nach Lübeck zum Einsatz. Gemessen an unseren Erfahrungen herrscht dort noch eine himmlische Ordnung. Es ist zwar auch eine zerbomb- te Stadt, es fehlt an Hilfskräften, es gibt viele Mängel, aber es funktioniert noch. Das Kriegsende ist in Sicht. Einmal werde ich zum Nachtdienst eingeteilt, muss zusätzlich noch eine neue Stati- on übernehmen und stehe vor einem Krankenbett mit einem jungen Soldaten, dem es sehr schlecht geht. Nach der Zeit, die hinter mir liegt, gehen bei mir alle Alarmsirenen an und ich kann nur mit aller Entschiedenheit denken: „Nein, nicht schon wieder, nein!“ Die letzten Ereignisse geschahen immer in einer Art kollektiver Verantwortung, jetzt habe ich plötzlich eine lasten- schwere Eigenverantwortung. Der diensthabende Nachtarzt ist nicht zu erreichen und ich fühle mich in einer Ausnahmesituation. Das ist so, als ob sich dein ganzes Sein auf einen Punkt konzentriert, du entwickelst Kraft und Entschlossenheit. Der junge Soldat ist in Westpreußen 30 | MÄRZ 2022 Hannelore Grimm: DER GRÖSSTE SIEG WÄRE DER ÜBER DEN KRIEG Winter, Ende 1944 Fotos: © Zeitgut-Verlag/Privatbesitz des Verfassers A lle Betten sind belegt! Wir können nicht aufnehmen! - Überall werden Betten dazwischen geschoben, Nebenräume werden belegt, zuletzt die Gänge. Ich bin nicht mehr eine Schwe- ster, die einen Namen hat, es wird gerufen, geschrien, gestöhnt „Schwester!“ Der geordnete Versorgungsab- lauf bricht zusammen, es geht nunmehr um die Erstversorgung der Neuen. Sie kommen fast alle mit Gasbrand, es wird amputiert, die im OP können es kaum bewältigen. Ein Verwundeter will mir etwas ins Ohr flü- stern, er sagt: „Meine Mutter sagte immer, Butzerchen’ zu mir.“ Ich nenne ihn „mein Butzerchen“, er lächelt und stirbt so, wie die Verwundeten reduziert sind auf ihre Verlet- zungen; so sind wir auf den einen Begriff „Schwester“ reduziert. Ich fühle mich wie ein Handlanger zwischen Hölle und Himmel. Es wird immer chaotischer und dann kommt der Aufruf zur Flucht. Der letzte Zug soll uns und eine Wöchne- rinnenstation aufnehmen. Wir helfen beim Transport aller Verwundeten zum Bahnhof. Dort wird der Zug von der Zivilbevölkerung belagert, jeder will die Stadt verlassen. Trotz militärischer Abschirmung geht dies nicht kampflos ab, Menschen schreien, fallen, werden zertrampelt. Nur mit aufgepflanz- tem Bajonett abgeschirmt gelingt uns das Einsteigen. Wütend hat die Menge einen Teil der Waggonfenster zerschlagen. Wir schreiben 1945, es ist Januar und wir haben 28° C Kälte; sieben Tage sind wir mit diesem Zug unterwegs, mehrmals unter Tief- Hannelore Grimm / Armin Mruck Zwei deutsche Lebenswege zwischen Diktatur und Demokratie Erinnerungen 1944 - 2000. 288 Seiten mit vielen Fotos und Dokumenten. Sammlung der Zeit- zeugen (79) Zeitgut Verlag, Berlin. Broschur ISBN: 978-3-86614-228-2

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