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information & erinnerung Harry Banaszak: REICHSPOGROMNACHT 9. NOVEMBER 1938 Ein Kriegskind erzählt 28 | JUNI 2020 K ühler Herbstwind fegte an diesem ersten November-Montag des Jahres 1938 über den Schulhof. Die Kastanien hatten ihre Blätter bereits verloren und streckten ihre kahlen Äste in den grauen Himmel. Ich fror während der großen Pause, daß mir kalte Schauer über den Rücken liefen und war froh, wieder zurück ins warme Klassenzimmer zu dürfen. Herrn Straeng kannte heute nur ein The- ma: Er sprach über das Attentat in Paris. Er verdammte den feigen jüdischen An- schlag auf einen deutschen Diplomaten. Der Attentäter soll ein 17-jähriger Juden- junge, ein gewisser, Hersche Grynszpan, gewesen sein. Herr Straeng schaffte es, uns Jungen so einzuheizen, daß wir wütend wurden, daß wir diesen feigen Kerl verfluchten und über diese entsetz- liche Tat entrüstet waren. Wie konnte der nur! Auch in Heises Kneipe und bei Vater im Laden wurde heiß über den Mord an dem deutschen Diplomaten Ernst vom Rath diskutiert. Unser Lehrer, der nur noch in seiner SA Uniform zur Schule kam, bearbeitete uns an den darauf folgenden Tagen in seiner eindringlichen Art zu glauben, daß alleine die Juden an allem Unglück unserer Welt schuld seien. Mit dem Rohrstock unter- strich er jedes seiner Worte. Und am Ende der Stunden waren wir Jungen fest davon überzeugt, daß das stimmte. Doch kaum zu Hause, die Schularbeiten hatte ich mit Oma B. gemacht, ging es zum Spielen rüber zu Herbert in den Kohlenkeller. Lehrer Straengs Worte waren vergessen. Bilder gucken war wichtiger. Herbert hatte zum Geburtstag eine Laterna ma- gica bekommen. Mit dieser Zauberla- terne projizierte er bunte Märchen- und Tierbilder auf ein weißes Laken, bis die Kerze runter gebrannt war. Das war wie im Kino. Gerwin, Herbert und ich konnten uns an diesen bunten Male- reien nicht satt sehen. Einmal in der Woche, immer am Mittwoch, war Oma-Tag. Auch heute, am 9. November, kam Oma B. zum Abendessen. Wenn die Laternen auf der Straße zu leuchten begannen, war in der Strelitzer Straße nichts los. Aber heute tat sich was. Eine Unmenge Lastwagen kamen von der Invalidenstraße her, brummten und schepperten gefährlich an unserem, sich unmittelbar über dem Bürgersteig befindlichem Kellerfenster vorbei. Vater hatte den letzten Kunden bedient und das Geschäft geschlossen, die Tür verriegelt. Mutter Liesbeth stellte ge- rade das Essen auf den Tisch. Plötzlich hörten wir von draußen eindringliches Schreien und Brüllen, so laut, daß es das Brummen der Motore übertönte. Vater, Mutter Liesbeth und Oma stell- ten sich an das Kellerfenster. Vater hob mich hoch, damit auch ich etwas sehen konnte. Ich sah, wie SA Männer drüben auf der Harry Banaszak aus dem Buch "Keiner hat mich je gefragt" Zeitgut Verlag, Berlin. Harry Banaszak Keiner hat mich je gefragt Ein Kriegskind erzählt. 1931-1948 160 Seiten, viele Fotos, Sammlung der Zeitzeugen (77), Zeitgut Verlag, Berlin. Broschur ISBN: 978-3-86614-239-8,
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