LERNEN MIT ZUKUNFT
29 | JUNI 2020 information & erinnerung anderen Straßenseite Menschen vor sich her schubsten und sie auf die Ladeflächen der Wa- gen zerrten. Fensterscheiben wurden zerschla- gen, Scherben klirrten auf den Bürgersteig. Möbel und Bettzeug flogen aus den Fenstern der oberen Wohnungen. Federn segelten im trüben Schein der Gaslaternen wie Schnee- flocken durch die Gegend. Die großen Schau- fenster der Schneiderei und des Seifenladens zerbarsten. Aus der Schneiderei kamen dunkle Gestalten, Stoffballen geschultert, und machten sich davon. „Mein Gott“, sagte Oma, „mein Gott, das sind doch auch Menschen! Mein Gott, mein Gott,“ wiederholte Oma immer wieder. Vater war kreidebleich im Gesicht, und ich zitterte vor Angst. „Hoffentlich kommen die nicht noch zu uns“, schluchzte Mutter Liesbeth. „Polen tun sie nichts“, entgegnete Vater, „außerdem sind wir deutsche Bürger.“ „Aber die da drüben doch auch!“, erwiderte Oma. In dieser Nacht schlief keiner in unserer Straße. Ich erinnerte mich an die Worte des Lehrers, was er uns über die Juden gesagt hatte. War das wirklich wahr? Aber der Schneidermeister, der gerade auf die Straße getrieben und mißhandelt wurde, war zu uns Kinder immer so freundlich. Wenn Gerwin und ich zum Spielen ein Stück Strippe brauchten und zu ihm in den Laden gingen und nach einem Bindfaden fragten, guckte er ganz verschmitzt und sagte: „Nu, ihr zwei, wollt wohl wieder Pferd spielen und braucht Zaumzeug, nicht?“ Wir nickten. Zum Bindfaden bekam jeder noch einen Pfefferminzbonbon. Mit einem freudigen „Danke“ flitzten wir auf die Straße und waren die glücklichsten Kinder der Welt. Auch Frau Grün aus dem Seifenladen, dessen Schaufenster- scheibe gerade zu Bruch gegangen war, kannte ich, solange ich lebte. Frau Grün war immer freundlich. Bei ihr durften wir im Sommer, wenn die Sonne am späten Nachmittag noch schien, sogar auf der Treppe vor ihrem Laden sitzen. Sie verjagte uns nie wie die anderen Geschäftsleute. In den letzten großen Ferien hatte sie jedem von uns sogar einen Kreisel geschenkt, einen schönen bunten. Die Strelitzer Straße hatte bis zur Anklamer einen asphaltierten Stra- ßenbelag. Hier konnten wir ungestört die Triesel (Kreisel) über den Asphalt peitschen. Die paar Pferdewagen, die zum Kuhstall fuhren, störten uns nicht. Den ganzen Herbst über waren wir beschäftigt, übten so lange, bis wir das Spiel beherrschten. Und das soll’n, wie Lehrer Straeng täglich behauptete, die Juden sein, die Deutschland und die Welt kaputtmachen? Unausgeschlafen machte ich mich am nächsten Morgen, auf den Weg zur Schule. Oma und Mutter Liesbeth hatten die ganze Nacht geweint. Überall auf der Straße lagen zerstörtes Mobiliar, zerrissene Klei- dung und Scherben. Es sah aus, als hätten die Müllmänner alle Müllkästen auf die Bürgersteige geleert. Mit weißer Farbe waren Fassaden mit sechseckigen Sternen und Parolen gegen Juden beschmiert. Das Horst-Wessel-Lied, jeden Morgen von der Klasse zum Unterrichtsbeginn gesungen, tönte heute schwach aus dem Munde unseres Lehrers. Die erhobene Rechte zitterte, er war heiser und sah müde aus. Seine braunen Schaftstiefel waren staubig, nicht so blank geputzt wie sonst. Erst als Herr Straeng von der erfolgreichen Vergeltung erzählte, die letzte Nacht statt- fand, lebte er auf und seine Augen glänzten trotz der „durch- kämpften Nacht“. Weil wir so brav zugehört hatten, bekamen wir nach der zwei- ten Stunde frei. Wir durften nach Hause. Dafür sollten wir einen Aufsatz über die Juden schreiben. Für den Aufsatz bekam ich eine Sechs. Ich glaube, der Aufsatz war zu kurz. Oma B., bei der ich noch immer nach der Schule meine Schularbeiten machte und zu Mittag aß sagte, als ich sie fragte, was ich schreiben solle: „Schreib, Juden sind auch Menschen. Punkt.“ Und das hatte ich geschrieben.
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