LERNEN MIT ZUKUNFT

Bei jener Fahrt 1943 im Mittelmeer nun hatten wir zwei Torpedotreffer abbekommen, bei Luke 2 und bei Luke 5. Beide waren voller Fässer mit Flug- zeugbenzin. Wir hatten keine Zeit mehr gehabt, die Boote ins Wasser zu bringen, denn nach zwei Explosionen lagen wir gleich alle „im Bach“. Ich hatte Glück und ein Floß erwischt, an dem ich mich festhalten konnte. Auf mein Rufen hin kamen einige von der Besatzung ange- schwommen. Alle klammerten sich am Floß fest, einem französischen Modell aus Eisenrohren. Einer schwamm an uns vorbei, der lag mit dem Oberkörper auf einem hölzernen Lukendeckel. Ich selbst trug eine Flieger-Schwimmweste auf dem nackten Körper, die ich in Italien, wo viele deutsche Flieger waren, gegen Zigaretten eingetauscht hatte. Es war zwischen zwei und vier Uhr nachts und stockfinster. Die Windstärke schätzte ich zwischen vier und fünf – und am Floß hielten sich 16 Leute fest! Ich hatte mich daran angetüdert (festge- bunden), um bei meinen Leuten zu blei- ben, das Wasser war kalt. Die Schwim- mer waren müde und steif geworden – drei waren mit einem Mal weg! Das Floß war aber nur für zwölf Per- sonen zugelassen, es war immer noch einer zuviel. Mit meiner Schwimmweste war ich etwas besser dran und hob auf einer Seite das Floß noch mit aus dem Wasser. Immer wieder rief ich den Leu- ten zu, sie sollten sich bewegen. 26 | JUNI 2022 Ernst Haß: IM MITTELMEER, ZWISCHEN ITALIEN UND AFRIKA, 1943 Charly, unser Oberheizer Fotos: © Zeitgut-Verlag/Privatbesitz des Verfassers V iel habe ich schon über die Zeit mei- ner Seefahrt geschrieben. Meistens waren das erbauliche Geschichten, denn von den schlimmen Erlebnissen im Krieg wollte keiner etwas wissen. Aber diese hier, die Geschichte von unserem Ober- heizer Charly, sie muß erzählt werden. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, eines Menschen zu gedenken, der zwölf Leben auf See gerettet hat, indem er sich selbst opferte. Wir hatten den Zweiten Weltkrieg, ich fuhr im Auftrag der Kriegsmarine-Dienststelle, kurz KMD genannt, 1943 als Bootsmann im Mittelmeer auf einem Blockadebrecher, einem Transporter. Insgesamt sieben Schiffe habe ich in den Kriegsjahren verloren und bin nur einmal trocken an Land gekommen! Bei diesen Schiffsverlusten sah ich große und starke Menschen mit einem noch größeren Mundwerk, auf den Knien liegend unseren Herrgott um Hilfe bitten. Tränen liefen ihnen über das Gesicht. Manche jammerten und schrien, anstatt sich eine Schwimmweste umzubinden. Ein anderer saß still in der Ecke und war zu keiner Bewegung fähig vor Angst. Der konnte uns nicht helfen, ein Boot oder Floß ins Wasser zu bringen, während das Schiff am Sinken war. Andere fürchteten sich, ins Wasser zu springen, mit oder ohne Schwimmweste, weil sie befürchteten, vom Sog des sinkenden Schiffes in die Tiefe geris- sen zu werden. Gewiß, die Chance ist klein, denn oft wurde noch, wenn die Leute den Sprung ins Wasser überlebt hatten, auf sie geschossen. Den- noch, im Wasser ist ein Strohhalm ein Rie- senbalken, der bei der Rettung helfen kann! In schweren Zeiten braucht man Glück 23 Zeitzeugen erzählen 1939 bis 1952. Zeitgut-Original, 192 Seiten mit vielen Abbildungen, Ortsregister, Zeitgut Verlag, Berlin. Gebundene Ausgabe ISBN 978-3-86614-215-2

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