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information & erinnerung Luise Rüth: Ein schlechtes Zeugnis BONN AM RHEIN, 1950 Luise Rüth, Autorin Foto: Buch-Cover www.zeitgut.de 30 | SEPTEMBER 2019 Fotos:© Archiv Verlag Zeitgut.de Entnommen aus dem Buch Unvergessene Schulzeit. Band 1 und Band 2 Erinnerungen von Schülern und Lehrern 1921-1962 384 Seiten, viele Abbildungen, Zeitgut-Auswahl, gebunden Zeitgut Verlag GmbH Berlin, www.zeitgut.com ISBN 978-3-86614-140-7 im letzten Jahr waren sie mir etwas zu klein gewesen. Beim Anprobieren stell- ten wir mit Entsetzen fest, daß meine Zehen bestimmt zwei Zentimeter über die Schuhe hinausragten. Was tun? Barfuß konnte ich nicht zur Schule gehen. Wir wohnten in der Stadt, und vielen Leuten ging es damals schon wieder recht gut. Mit diesen Sandalen war ich am ersten Schultag dem Gespött meiner Klassenka- meraden ausgeliefert. Sie liefen johlend hinter mir her und lachten mich aus. Ich war traurig, aber noch mehr wütend, und schämte mich. Die Tränen liefen mir über die Wangen, ein ganz schlimmer Jähzorn erfaßte mich. Ich zog die Sanda- len aus und schlug damit wild um mich. Dabei traf ich eine Schulkameradin am Kopf. Sie trug eine Platzwunde davon, die heftig blutete. Zu Tode erschrocken lief ich nach Hause. Am nächsten Tag wurde ich mit Mutter zur Lehrerin bestellt. Mutter wußte Be- scheid. Ich hatte ihr abends alles erzählt, weil mich das schlechte Gewissen nicht einschlafen ließ. Die Lehrerin machte mir heftige Vor- würfe und drohte mit Strafe. Warum es überhaupt zu diesem Vorfall gekommen war, wollte sie gar nicht wissen. Darüber empört, begann Mutter, mich zu trösten. Zu meinem großen Pech war die verletz- te Mitschülerin der Liebling der Lehrerin. Die Eltern des Mädchens hatten nämlich ein Lebensmittelgeschäft, und jeden Tag fiel etwas für die Lehrerin ab: mal etwas Wurst, mal etwas Schokolade oder V ater war gerade erst krank aus der Kriegsgefangenschaft zurück- gekehrt. Unsere wirtschaftlichen Verhältnisse waren sehr be- scheiden. Vater mußte neu eingekleidet werden; die schäbige Gefangenenklei- dung wollte er nicht mehr tragen. Seine alte Kleidung war zum Teil den Bomben zum Opfer gefallen. Und wir hatten auf der Flucht nichts mitnehmen können. Mutter meinte, sie hätte ihm sowieso nicht mehr gepaßt. Vater war zwölf Jahre lang, mit nur kur- zer Urlaubsunterbrechung zu Beginn des Krieges, von uns fortgewesen. Hunger und Entbehrungen hatten seinen Körper gezeichnet. Er hatte starkes Unterge- wicht. Als wir ihn auf dem Bahnhof abholten, erkannten Mutter und ich ihn nicht wieder. Als junger Mann war er gegangen, und als uralter kam er zurück. So sah er jedenfalls in meinen Augen aus. Es machte uns sehr traurig. Ich war acht Jahre alt. Wir bemühten uns, alles zu tun, daß Vater immer satt wurde und sich vielleicht wieder wohl fühlte. Daher mußten wir unsere eigenen Bedürfnisse weit zurückstellen. Nun war der Frühling in diesem Jahr sehr früh gekommen und außergewöhnlich warm. Es schien, als wollte uns die Na- tur für die Entbehrungen der zurücklie- genden Jahre entschädigen. Meine Win- terschuhe, klobige Lederschnürschuhe, einige Nummern zu groß, was mit dicken selbstgestrickten Socken ausgeglichen wurde, waren jetzt einfach zu warm. Mutter holte meine Sandalen aus dem vergangenen Jahr vom Speicher. Schon

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