LERNEN MIT ZUKUNFT
35 | SEPTEMBER 2020 information & erinnerung Die nette Lehrerin hatte mir das Häkeln beigebracht, und so war Eulalia im Besitz eines langen, warmen Schals aus bunten Wollresten. Wir waren beide sehr stolz darauf. Der Schal wurde zu warm, als der Frühling kam, und wieder ein Sommer ... Die Zeit verging. Irgendwann kam Unruhe unter die Menschen, und dann sahen Eulalia und ich zu, wie die ersten Familien aus unserer Baracke ihre paar Habseligkeiten zusammenpackten. „Sie dürfen ausreisen“, sagte meine Mutter. „Wohin ?“ „Nach Deutschland.“ „Und wir?“ Ich bekam keine Antwort. In dieser Nacht versprach ich Eulalia, niemals ohne sie auszureisen. „Wir bleiben immer zusammen“, flüsterte ich in ihr Wollhaar. Als es dann im Oktober 1947 für uns so weit war, hielt ich dieses Versprechen. Eulalia fest an mich gedrückt, fuhr ich mit einem Zug nach Deutschland, wo immer das auch sein mochte. Ich hatte davon keine Vorstellung. Die Lehrerin hatte meiner Puppe zum Abschied ein neues Kleidchen genäht. Hellblau, passend zu ihren Augen. Auch waren die schlimmsten Lauf- maschen gestopft, und so sah Eulalia doch recht manierlich aus, als wir über die Grenze in eine neue Heimat fuhren. Der Weihnachtsmann hat Eulalia übrigens am Heiligen Abend im Jahr darauf mitgenommen. Er hat mir dafür Bärbel gebracht. Sie war eine echte Schildkröt-Puppe mit sehr schönen Kleidern. Trotzdem dauerte es seine Zeit, bis ich mich ihr gegenüber auf meine Puppenmutterpflichten besann. Meine Eulalia werde ich nie vergessen. und mußte zu einem Bubikopf geschnit- ten werden. Ein neues Kleid aus einem gepunkteten Stoffrest machte diesen kleinen äußerlichen Mangel wieder wett. Die Sommer im Lager waren schön. Zwischen den Baracken liefen weiße Sandwege, auf denen wir Kinder bis hin zu den kleinen Hügeln mit Strandhafer und dunklen Kiefern barfuß laufen konn- ten. Dort sammelten wir Zapfen und Kleinholz zum Heizen des Barackenofens im Winter. Im September blühte die Heide. Bäuchlings lagen wir Kinder auf diesem dunkelroten duftenden Teppich und beobachteten Käfer und Hummeln. Eulalia war immer dabei. Doch die Heide verblühte viel zu schnell, und der Winter kam. Für uns Kinder war das eine dunkle, traurige Zeit. Über zwanzig Personen lebten eng neben- einander in den Baracken. Oft kam es zwischen den Erwachsenen zu lauten Streitereien. Wir Kinder wurden im- mer wieder ermahnt, leise zu sein, aus Rücksicht auf die Alten und Kranken. Aber das schlimmste war die Kälte. Für jede Baracke gab es nur einen Eimer Torf täglich. Meist lagen wir, mit allem Verfügbaren zugedeckt, auf der Stroh- matratze. Foto oben: Drei Puppenmuttis 1952. Links sitze ich mit meiner neuen Puppe Bärbel, einer echten Schildkrötpuppe. Foto links: Kinderjahre hinter Stachel- draht. 1995 habe ich das Lager Oksboel in Däne- mark besucht, in dem wir zwei Jahre interniert wa- ren. Es gab noch ein paar Baracken und ein sehr interessantes Informati- onszentrum über die Zeit der „Flüchtlinge“. Ein Foto aus der Ausstellung. Das Flüchtlingslager Oksboel beherbergte zwischen 1945 und 1949 bis zu 35.000 deutsche Flücht- linge und Vertriebene aus dem Osten des Deutschen Reiches. Es lag auf dem Truppenübungsplatz bei Oksboel (Varde Kommu- ne) und bestand bis 1949.
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