LERNEN MIT ZUKUNFT
Thomas Kolbe Fachwissenschaftler für Versuchstierkunde, Ao. Prof. für die Service-Plattform Biomodels Austria Veterinärmedizinische Universität Wien 10 | SEPTEMBER 2021 GIBT ES FÜR „UNBEDACHTE AUSSETZER“ IM HANDELN EINE EINFACHE ERKLÄRUNG? Dr. Jekyll und Mr. Hyde Welche Gehirnhälfte ist für was zuständig?: B ei Umfragen bezeichnen sich 80% der AutofahrerInnen als überdurchschnittlich gute Fahre- rInnen. Es sollte einleuchten, dass 30% der Befragten sich irren müssen. Aber diese irrige Selbsteinschätzung, oder hier besser Selbstüberschätzung taucht auch in anderen Befragungen auf. Bei einer Gesellschaftsstudie zur Mei- nungsbildung im Auftrag der Heinz- Lohmann-Stiftung wollen AutofahrerIn- nen umweltfreundlich unterwegs sein, aber nicht auf PS verzichten. 50% der befragten Personen, die im Diskounter Billigfleisch kaufen, lehnen Massentier- haltung ab. Wie kommt das? Sagen die Leute bei der Befragung nicht die Wahr- heit? Oder werden später doch wieder schwach? Die Erklärung liefert uns die Neurophysiologie mit dem Phänomen der „kognitiven Dissonanz“. Das menschliche Gehirn besteht über- wiegend aus zwei Hälften, die durch einen dicken Strang von Nervenbahnen miteinander verbunden sind. Die rechte Gehirnhälfte kontrolliert die lin- ke Körperseite und umgekehrt. Die beiden Gehirnhälften haben nun unterschiedliche Aufgaben- schwerpunkte: Die linke Hälfte ist wichtiger für das Sprechen und logisches Denken. Die rechte Hälfte kann räumliche In- formationen besser verarbeiten. Normalerweise koordinieren sich beide Gehirnhälften bevor es zu einer Reaktion kommt. Aber eben nicht immer. Wichtige Erkenntnisse dazu wurden an Epilepsie-Patienten gewonnen, bei denen diese Verbindung der Gehirnhälf- ten aus medizinischen Gründen unter- brochen wurde und an Kriegsopfern mit einem vergleichbaren Schaden. Für diese Forschung bekam Roger Wolcott Sperry 1981 den Medizin-Nobelpreis. Die linke Hälfte kontrolliert nicht nur das Spre- chen, sondern interpretiert Erlebnisse auch, baut Erinnerungen ein und erfindet eine Geschichte, die zu den subjektiven Erinnerungen passen. Während die rechte Hälfte eher für die Koordination aktueller Handlungen zuständig ist. Da- her beschließt z.B. die linke Gehirnhälfte, dass man mehr Sport treiben sollte, die rechte Gehirnhälfte platziert einen dann aber doch auf das Sofa vor den Fernse- her. Oder die linke Gehirnhälfte überlegt noch, wie man sich bei dem neuen Chef beliebt machen könnte, damit es mit der Beförderung auch klappt und die rechte Gehirnhälfte übernimmt dann kurzfristig und lässt einen Kommentar über den komischen Modegeschmack des neuen Chefs heraus. Wir sollten uns gewahr sein, dass es kein einziges „Ich“ gibt, sondern mehrere Selbst: Ein erinnerndes Selbst, welches ein Wunschbild formt und Erinnerungen selektiv unterdrückt oder verstärkt. Und ein erlebendes Selbst, welches in aktuellen Situationen die Führung übernimmt. Das können wir selten kontrollieren, wenn wir sehr spon- tan handeln. Aber allein, dass uns diese Tatsache bewusst ist, führt vielleicht zu besser überlegten Handlungen bei Entscheidungen im Alltag. INFO Michael S. Gazzaniga: Die Ich-Illusion Sally S. Springer und Georg Deutsch: Linkes – rechtes Gehirn. Funktionelle Asymmetrien. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012.
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