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Brigitte Brüning: NOSTALGIE SUCHT GERNE WÄRME IN LÄNGST ERKALTETEN NESTERN © Michael Marie Jung ABC-Schützen in Frankfurt/Oder 32 | SEPTEMBER 2021 Trümmerfrauen. Ihre Kinder spielten am Rande mit kleinen Steinen, die sie immer in das gleiche Loch warfen. Die Frauen sortierten Trümmerteile von be- reits zum Einsturz gebrachten beschä- digten Häusern. Mauersteine, Dielen und Holzbalken wurden gereinigt und zur Wiederverwendung bereitgelegt, ebenso Kabel und Rohre, die später eingeschmolzen werden sollten. Holz- reste waren begehrtes Brennmaterial; alles was nicht weiter verwendungsfä- hig war, kam auf die Schutthalde. Wir liefen auch an der Gurschstraße vorbei, in der wir bis Februar 1945 gewohnt hatten. In der Endphase des Krieges, als die sowjetischen Truppen auf breiter Front die deutschen Grenzen überschritten, waren wir nach Berlin evakuiert worden und dort bei Tante Lieselotte untergekommen. Das war unser Glück, denn im April 1945 zer- störte ein Bombenangriff fünf Häuser der Straße, darunter auch unser Haus, nur ein paar Wände blieben stehen. Meine Gedanken gingen zu meiner Mami, ich wurde ganz traurig und still. Meine Mutter war erst im Januar an einer Lungenentzündung gestorben. Durch die schlechte Ernährung fehlten ihrem Körper Abwehrkräfte, und sie wurde krank. Innerhalb von nur vier Tagen war sie tot. Das Penicillin, das ihr Leben hätte retten können, gab es in Deutschland noch nicht, erklärte mir mein Vater. Als wir in der Schule angekommen waren, versammelten wir Erstkläßler uns auf dem Schulhof, nur wenige hatten eine Schultüte. Ich war glücklich D er 2. September 1946, mein erster Schultag, war ein warmer und sonniger Montag. Mein Vati hatte mich im Sommer für die Schule angemeldet. Jedes Kind, das sechs Jahre alt war, wurde eingeschult, aber auch Kinder, die bereits acht Jahre alt waren, kamen in die erste Klasse. Viele waren zwar schon 1944 während des Krieges eingeschult worden, trafen aber durch Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten erst Mitte 1946 in Deutschland ein. In Frankfurt hatten am 1. Oktober 1945 drei Schulen den Schulbetrieb aufgenom- men, am 2. September 1946 kamen vier weitere hinzu. Ich wurde im ehemaligen Realgymnasium in der Wieckestraße eingeschult. Ich hatte das rot-weiß- karierte Kleid an, das ich bereits in den vergangenen zwei Jahren trug. Tante Martha hatte es mit weißen Stoffstreifen verlängert, so daß ich das Kleid noch einige Zeit anziehen konnte. Dazu trug ich braune Halbschuhe mit gehäkelten Schnürsenkeln, die ich, zum Leidwesen meiner Großmutter, immer noch nicht zur Schleife binden konnte. Eigentlich waren mir die Schuhe zu klein, aber mein Vati hatte kurzerhand die Kappe vorn aufgeschnitten. Alle zehn Zehen schau- ten heraus, aber die Schuhe drückten nicht mehr. Meine dunklen Socken be- standen fast nur aus gestopften Stellen. Meine Großmutter und mein kleiner Bru- der Hans-Dieter, der gerade fünf Jahre alt geworden war, begleiteten mich zur Schule. Wir gingen die Theaterstraße entlang, an dem kleinen Park vorbei. Rechts türmten sich Ruinen, Trümmer- und Schuttberge auf. Dort arbeiteten Artikel aus: Unvergessene Schulzeit. Band 1 und Band 2 Erinnerungen von Schülern und Lehrern 1921-1962 384 Seiten, viele Abbildungen, Zeitgut-Auswahl, gebunden Zeitgut Verlag GmbH Berlin, www.zeitgut.com ISBN 978-3-86614-140-7 Fotos: © Zeitgut-Verlag

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