LERNEN MIT ZUKUNFT

33 | DEZEMBER 2018 information & erinnerung „da kann ich gleich mal hören, ob sie auch Mama rufen kann.“ Mutti wehrte empört ab: „Nein, nicht doch, Alfred! Die Kleine wacht womöglich auf.“ Aber ehe sie es verhindern konnte, wurde die Tür einen weiteren Spalt geöffnet. „Alfred, bleib hier!“, versuchte Mutti ihm Einhalt zu gebieten, aber es war zu spät. Ehe sie es verhindern konnte, schrie es im Dämmerlicht über mir: „Mama, Mama, Mama!“ Ich blinzelte hinter fast verschlos- senen Lidern hervor und sah die Umrisse einer wunderschönen Babypuppe, die Papa vergnügt vor- und zurückschwenkte. Am liebsten hätte ich meine Arme nach ihr ausgestreckt, aber ich war so schlau, mir nichts anmerken zu lassen. Voller Vorfreude schlief ich dem nächsten Tag entgegen und war am Morgen wieder ganz gesund. Am Heiligen Abend saß mein neues Puppenkind im rosa Taufkleid auf dem Gabentisch und war noch viel schöner als ich es vor zwei Tagen erahnen konnte. Ob ich denn schon einen Namen für die Puppe hätte, wollte Papa wissen. Natürlich hatte ich den: Lottchen sollte sie heißen. Feierlich überreichte mir Papa ein Stück Papier: „Das ist ein Taufschein. Auf einem echten Taufschein sind keine Ab- kürzungen erlaubt. Ich schreibe Charlotte hinein aber für dich heißt sie Lottchen. Einverstan- den?“ Das war ich, hatte doch jedes Kind in unserer Familie etliche Spitznamen und wurde nur selten so gerufen, wie es in seiner offiziellen Geburts- und Taufurkunde stand. Ich war stolz, fühlte mich wichtig und ernst genommen. Welches Kind hat schon eine Puppe mit einem echten Taufschein? Meine „Mama-Schreierin“ wurde mei- ne Lieblingspuppe. Jahre später besuchte mich meine Schwester Gisela mit ihrer kleinen Tochter Isabell. Diese zog Lottchen eine Spielhose an, tanzte mit der Puppe durch den Garten und sang: „Arrivederci Hans, das war der letzte Tanz ...“ So wurde von einer Minute auf die andere aus meinem Lottchen ein Hans. Bei Puppen sind Geschlechts- änderungen halt relativ einfach durchzuführen. Seitdem lebt Lottchen-Hans, vom Alter etwas mitgenommen, bei meiner Schwester in der Pfalz.

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