LERNEN MIT ZUKUNFT

Dagmar Göstel: BERLIN-CHARLOTTENBURG – BERLIN-WEISSENSEE; 25. DEZEMBER 1964 Weihnachten an der Berliner Mauer 38 | DEZEMBER 2020 D ie Gefühle rund um das Weih- nachtsfest im Berlin meiner Kindheit waren geprägt von der Teilung der Stadt in West und Ost. Die 1961 gebaute Berliner Mauer bedeutete nicht nur einen Riß quer durch Berlin, sondern auch mitten durch unsere Familie. Meine Eltern, meine jüngere Schwester Manuela und ich lebten im Westteil, unsere Großeltern und unsere Lieblingstante im Ostteil der Stadt. Da machte sich bei aller weihnachtlichen Vorfreude gerade in der Adventszeit zugleich immer eine gewisse Traurig- keit über die Trennung breit. So sicher Lametta unseren Weihnachtsbaum schmückte, so sicher gehörte der erste Weihnachtsfeiertag meinen Großeltern und meiner Tante „drüben“. Das bedeu- tete sehr frühes Aufstehen an jedem 25. Dezember, dann stundenlanges Warten an der Grenze. Die „Vopos“ beäugten uns kritisch – oder kam es uns nur so vor, weil meine Eltern immer verbotene Dinge dabei hatten? Wurst und Fleisch für Omas Kochkünste, West-Zeitungen für Opa, eine Schallplat- te für meine Tante – nach menschlichem Ermessen zwar alles sicher versteckt und gut getarnt in Tüten und Taschen, aber man wußte ja nie ... Der Trick bestand darin, die Tüten und Taschen sofort bereitwillig und geöffnet dem jeweiligen Kontrolleur unter die Nase zu halten, noch bevor er uns dazu aufforderte. Diese „freiwillige Offenheit“ wurde meistens mit nur oberflächlicher Taschenkontrolle belohnt, die nie in die Tiefe ging. Ich erinnere mich, wie mein Vater einmal, sehr zum Vergnügen von uns Kindern, eine Fleischwurst in der In- nentasche seiner Anzugjacke versteckte. Pu- uuuh, war diese Hürde genommen, konnten wir schon bald Oma, Opa und unsere Tante in ihrer ofengeheizten Stube in Weißensee in die Arme schließen und bei Kerzenlicht, Dresdner Stollen und Omas heißgeliebtem Rosinenkuchen für ein paar Stunden so tun, als gäbe es keine trennende Mauer ... Am Abend dann, alle Jahre wieder, das Gan- ze rückwärts: Ausgestattet mit Geschenken meiner Großeltern, führte der Heimweg zu- rück zur Grenze. Da passierte zu Weihnach- ten 1964 am Grenzübergang Bornholmer Straße die Fast-Katastrophe: Meine Mutter reichte unsere Ausweise dem Grenzsoldaten. Der guckte, stutzte, guckte wieder, blätterte wild in den Ausweisen herum und schnauzte schließlich: „Sie sind heute Morgen mit nur einem Kind in die DDR eingereist, also reist jetzt auch nur eines wieder aus!“ Meine Mutter war eine zierliche Frau, aber sie wurde in diesem Moment – zumindest stimmlich – zur Riesin. Ich habe ihre Antwort in schönstem Berliner Dialekt noch heute, über fünf Jahrzehnte später, im Ohr: „Sie, junger Mann, wir sind mit zwee Mädels anjekommen und nehmen ooch beede wieder mit zurück – und wenn ick hier steh’, bis der letzte Schnee jetaut is’!“ Ungerührt rief man uns aus der Warte- schlange und ließ uns abseits stehen. Es war fast stockdunkel, ein paar Grenzlaternen gaben kaum Licht, vielmehr tauchten sie die Szenerie in Unheimlichkeit. Wir waren allein, standen ohne Ausweise mitten in der Grenz- anlage. Es gab kein Vor und kein Zurück. Wir warteten. Minuten. Eine Stunde. Die Angst kroch ganz langsam überallhin – und die winterliche Eiseskälte hinterher. Bald kämpfte meine Mutter mit den Tränen, was Unvergessene Weihnachten. Band 14 31 besinnliche und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen 192 Seiten mit vielen Abbildungen, Zeitgut Verlag, Berlin. Klappenbroschur ISBN: 978-3-86614-280-0 www.zeitgut.com Fotos: © Zeitgut-Verlag

RkJQdWJsaXNoZXIy NDYxNDY=