LERNEN MIT ZUKUNFT

39 | DEZEMBER 2020 sie zwar zu verbergen suchte, aber ihr Kinn gehorchte ihr nicht, es zitterte verdächtig. Noch heute höre ich meinen Vater beruhi- gend auf sie einreden, aber der flatterige Schatten seiner Hand, als er an seiner Ziga- rette zog, verriet auch ihn. Kindern entgeht so etwas nicht! Meine kleine Schwester war sechs und ich war acht Jahre alt. Die Eltern hatten also Angst, das bedeutete echte Gefahr. Plötzlich, wie aus dem Nichts, trat ein paar Meter weiter ein junger Grenzsoldat aus dem Dunkel seines Wachhäuschens. In Zeitlupe kam er auf uns zu, ein Gewehr auf dem Rücken, und umrundete uns ein ums andere Mal. Dabei ging er immer ganz nah an meine Eltern heran und flüsterte Ihnen unaufhörlich zu: „Haben Sie keine Angst, es wird ihnen nichts passieren, Sie werden ganz bestimmt beide Kinder wieder mitnehmen.“ Das entspannte unsere Lage kolossal, Mutters Kinn zitterte nicht mehr, während es für den Soldaten sicher sehr ungemütlich geworden wäre, hätte man ihn dabei erwi- scht, uns zu trösten und überhaupt mit uns zu sprechen. Nach einer Ewigkeit winkte man uns heran, drückte meinem Vater die Papiere in die Hand und entließ uns alle vier tatsächlich mit einem „Frohe Weihnachten noch!“ in die Freiheit. Keine Erklärung, keine Entschul- digung, aber das war jetzt auch egal. Wir wollten nur noch weg. Als wir dann endlich in einem geheizten Berliner Bus den Heimweg in Richtung Charlottenburg antraten und meine Eltern meine Schwester und mich wortlos an sich drückten, sagte meine kleine Schwester: „Der Mann mit dem Gewehr kam mir vor wie ein Engel.“ Naja, „Engel“ war sicher etwas übertrieben, aber dieser junge Grenzsoldat gab dem Ganzen – zumindest für uns an diesem Weih- nachtstag – ein menschlicheres Gesicht und so wurde er zu unserem ganz persönlichen Weihnachtsengel. Das ist mein Vater Klaus Göstel mit meiner Schwester Manuela, da- neben meine Mutter Waltraud Göstel mit mir. Das muss Weihnachten 1963 oder 1964 gewesen sein. Meine Patentante Inge Seek (leider nur seitlich) nach der weihnacht- lichen Bescherung ca 1960. Ich stehe links, meine Schwester am Klnderwagen vor unserer Tante.

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