information & bewusstsein
Gegen Vorurteile:
SCHLÜPFEN SIE EINMAL IN DIE ROLLE IHRES GEGENÜBERS
Mund auf, Stempel weg
30 | MÄRZ 2016
Foto: ©
Fotolia.comJessica Menke
Studentin
Krefeld, Deutschland
Damit ist das Eis gebrochen, wir kommen ins
Gespräch und die Dame erzählt mir, nachdem
sie sich ausgiebig entschuldigt hat, dass sie
die heutige Jugend so abweisend erlebe, in
sich gekehrt, abgeschirmt durch Kopfhörer.
Sie verstehe einfach nicht, was in den Köpfen
der jungen Menschen von heute vorgeht.
Auch wenn das Missverständnis aufgeklärt
werden konnte, hat mich diese Situation in
der Bahn noch lange beschäftigt. Mir sind
dann noch mehr Beispiele eingefallen, an
denen man festmachen kann, wie leicht man
durch sein oft gar nicht bewusstes Verhalten
abgestempelt wird.
Vorurteile entstehen oft schneller als ge-
dacht, das ist nichts Neues, und in vielen Fäl-
len kann man diese auch schnell wieder aus
dem Weg räumen, aber ich habe das Gefühl,
dass eine neue intergenerationelle Brisanz
entsteht. Je mehr sich die Lebenswelten
junger Erwachsener und älterer Menschen
unterscheiden, desto fruchtbarer scheint
der Nährboden für die Vorurteilsbildung zu
werden.
Dem kann aber jeder für sich entgegenwir-
ken, denn wir wissen ja: Oft ist es nicht wie
es auf den ersten Blick scheint und es lohnt
sich dann eben doch manchmal nachzuhaken
oder abzuwarten, bevor wir den Stempel
rausholen. Wie sagt man doch so schön:
„Sprechenden Menschen kann geholfen wer-
den“, aber bitte nicht vergessen: „Der Ton
macht die Musik“!
I
ch sitze in der Bahn, Kopfhörer in bei-
den Ohren und bin ganz weit weg. Es
ist Prüfungsphase in der Uni, meine
Gedanken kreisen um die Worte, die
sich langsam und deutlich gesprochen
in meinem Kopf halten sollen. Was um
mich herum passiert bekomme ich kaum
mit, ich versuche mich zu konzentrie-
ren und die lange Bahnfahrt bis nach
Hause zu nutzen. Neben mir, am Fenster
sitzt eine ältere Dame, kritisch beäugt
sie mich und wendet ihren Blick dann
wieder ab.
„Junge Frau“, sagt sie nach einer Weile
in einer sehr gereizten Tonlage. „Junge
Frau, Sie haben die Stöpsel doch nur im
Ohr damit Sie nichts mitkriegen müssen
und chillen können. Haben sie nicht den
Mann gesehen? (Zeigt auf einen Mann
mit offensichtlicher Gehbehinderung) Er
wollte sich gerne setzen, aber es kann
ja auch jemand anders aufstehen nicht
wahr?“. Ich war ziemlich erschrocken,
wusste überhaupt nicht was ich sagen
sollte. Natürlich hätte ich den Mann
sehen können und natürlich wäre ich
dann aufgestanden, aber hat die ältere
Dame das Recht mich in die Schublade
eines ignoranten jungen Menschen zu
stecken?
Andererseits, was soll sie auch denken?
Woher soll sie wissen, dass ich so weit
weg bin, weil ich lerne, weil ich versuche
die Zeit zwischen Uni und Arbeit zu
überbrücken? Ich nehme die Kopfhörer
aus den Ohren, zeige sie der Frau und
sage: „Klinische Psychologie, die Prü-
fung ist in drei Tagen“.