zu ziehen, der ganz sicher ein Sozial-
demokrat mit aufrichtigster Gesinnung
war. Das Thema beschäftigt mich, weil
es mir gefährlich erscheint nach vielen
Jahrzehnten und heutigem Wissen über
Persönlichkeiten von „Damals“ zu urtei-
len; nicht nur mit dem heutigen Wissen,
sondern auch mit heute gebräuchlichem
Vokabular, beziehungsweise mit Worten
zu argumentieren, die den heutigen
Zeitgeist widerspiegeln.
Gerade heute muss man vorsichtig mit
Verurteilungen sein und sich hüten
vor vorschnellen Urteilen, denn sonst
müsste man die Radetzkystraße ebenso
umbenennen wie den Maria-Theresien-
Platz, denn beide haben sich als „Deut-
sche“ gesehen, wie auch der allgemein
beliebte Biedermeier Kaiser Franz II, der
zu Napoleon sagte: „Sire, ich bin ein
deutscher Fürst.“
Vielleicht ist gerade in Zeiten mit
Nationalratswahlen besonderes Fin-
gerspitzengefühl angebracht - Toleranz
und Verständnis für eine Zeit, in der die
meisten von uns noch gar nicht auf der
Welt oder Kleinkinder waren. Es ist doch
erstaunlich auf welche Gedanken man
kommt, wenn man am Balkon steht und
auf ein Denkmal blickt!
SEPTEMBER 2013 | 15
URTEILEN IST LEICHTER ALS DENKEN
■
■
S
eit Juli 2012 haben wir in Wien
ein neues, wunderschönes Büro
und wenn ich am Balkon stehe,
blicke ich direkt auf die Lueger-Statue.
Auf jenen Karl Lueger, der wie kaum
ein anderer Bürgermeister diese Stadt
geprägt hat. Mehrmals von Kaiser Franz
Joseph I „verhindert“ ist es ihm doch ge-
lungen über 13 Jahre im Amt zu bleiben.
GEDANKENGANG
Als wir dieses Büro bezogen haben, ist
der Karl-Lueger-Ring umbenannt worden
und es wurde auch diskutiert ob der
Karl-Lueger-Platz (der Platz vor unserem
Balkon) auch umbenannt werden soll.
Im Rahmen dieser Diskussion sind
viele Namen von Straßen und Plätzen
„durchleuchtet“ worden - ob ihre Na-
mensgeber auch würdig genug sind, um
als Namensgeber zu fungieren. Neben
vielen anderen Namen wurde auch Dr.
Karl Renner auf seine Qualifikation als
Namenspatron geprüft. Dabei wurde ins
Treffen geführt, dass der Präsident des
Nationalrates und spätere Bundesprä-
sident 1938 glühender Anhänger des
Anschlusses an Deutschland war - ein
Anschluss, den er bereits 1918 für die
beste Lösung hielt.
Ich möchte hier nicht die Frage stellen,
ob Lueger tatsächlich ein Antisemit
oder lediglich ein Populist war (der im
Übrigen 1908 den Antisemitismus als
„Pöbelsport“ bezeichnet hat), genauso
wenig steht es mir zu die demokratische
Gesinnung von Karl Renner in Zweifel
Toleranz zeugt von Intelligenz:
Vom Balkon blicke ich herab
information & entwicklung
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Mag. Jacques A.
Mertzanopoulos
GF ARTHUR HUNT
Human Resources
Consulting, Wien
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